E. Abetel hat sich mit dem Thema der ‚Gigantomachie von Lousonna-Vidy’ nahezu 20 Jahre vor seiner hier anzuzeigenden Arbeit schon einmal beschäftigt : E. Abetel, Le bas‑relief de la Gigantomachie de Lousonna‑Vidy. In : Le monde des images en Gaule et dans les provinces voisines. Kolloquium Sèvres Mai 1987. Caesarodunum 23, 1988, 6‑23 (im folgenden : Abetel 1988). Im Buch von 2007 fasst er das Thema nun naturgemäß sehr viel weiter. Neben der Untersuchung der Fragmente der Gigantomachiereliefs und ihrer Einordnung in den lokalen Kontext von Lousonna (Kap. I u. IV‑VII, S. 11–20 u. 49–117) geht er auf die Verwendung des Motivs ‚schlangenfüßiger Gigant’ in der griechischen und römischen Literatur und Kunst ein (Kap. II : La guerre des géants u. III : Le thème du géant chez les Romains, S. 21–47) und betrachtet schließlich als zweites Hauptstück des Buches das Thema ‚Gigantomachie’ in der Kunstgeschichte bis ins 19. Jahrhundert (Kap. VIII : La survie du thème de la gigantomachie u. IX : La Renaissance, S. 119‑150). Abetel betrachtete diese beiden letzten Kapitel offensichtlich als einen nur lose mit dem ersten Teil des Buches verbundenen Themenbereich, da er Bibliographie und auch Indices für beide Themenbereiche getrennt aufführt (S. 162‑183). In meiner Besprechung werde ich mich daher nur auf die antiken Reliefs aus Lousonna konzentrieren.
Diese Reliefs, 1936 gefunden und zunächst nur unzureichend publiziert, sind fünf Jahre vor dem Druck von Abetels Buch von C. Neukom im Rahmen des CSIR vorgelegt worden (C. Neukom, CSIR Schweiz 1,7 : Das übrige helvetische Gebiet. Antiqua 34 [Basel 2002] 76‑80 Nr. 48a‑g Taf. 45‑50; im folgenden : Neukom 2002), die sich mit Abetels Ergebnissen aus dem oben erwähnten Aufsatz auseinandersetzt und von Abetel auch Einsicht in sein Buchmanuskript gewährt bekam (Neukom 2002, 77 Anm. 359, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass sie nicht alle Ergebnisse Abetels teile).
Gefunden wurden die Skulpturen in einer Brandschicht bei dem Tempel im Zentrum des antiken Lousonna (vgl. S. 10 Abb. 1). Die Reliefs waren also an einer prominenten Stelle des vicus, am Tempel selbst oder an einem Monument auf dem Platz vor ihm angebracht.
Der Tempel wurde wohl in severischer Zeit gebaut und von Christen zerstört, wie Abetel in seinen Kapiteln VI (La construction du temple de Lousonna et son context historique, S. 99–108) und VII (La destruction du temple de Lousonna, S. 109–117) ausführt. Das Kapitel VII leitet eigentlich schon zum zweiten Hauptstück des Buchs über, da in einem „Les géants chez les premiers chrétiens“ (S. 113‑117) überschriebenen Abschnitt über die Reaktionen der frühen Christen auf das Thema ‚Gigant’ berichtet wird.
Erhalten sind insgesamt sieben Fragmente eines größeren Zyklus, dessen Thema durch den blitzschleudernden Iuppiter (S. 14 f. A1 Taf. 1a) und Reste von schlangenbeinigen Giganten (S. 15 f. A2 Taf. 2’a und 3a; S. 17 A7 Taf. 8a) sicher ist. Sie werden in Kap. I (Historique de la découverte, S. 11–20) beschrieben, während in Kap. IV (La reconstitution de la gigantomachie de Lousonna-Vidy, S. 49–82) ihre ikonographische Ergänzung und Einordnung vorgenommen wird. Hier werden auch griechische und römische Gigantomachiezyklen vorgestellt, in denen Vorbilder für die Reliefs aus Vidy zu finden sind. Den in den germanischen und gallischen Provinzen wichtigen Komplex der Iuppitergigantensäulen hat Abetel schon in Kap. III angesprochen. Er lehnt zu recht eine Verbindung der Reliefs in Vidy mit einer Säule ab. Was er allerdings in dem Abschnitt „Les cavaliers à l’anguipède“ (S. 41‑45) zur Herleitung der Gigantengruppe und der Deutung der Säulen schreibt, ist gegenüber dem Forschungsstand des Jahres 1981 sicher kein Fortschritt (vgl. G. Bauchhenß/P. Noelke, Die Iuppitersäulen in den germanischen Provinzen. Beihefte Bonner Jahrbücher 41 [Köln u. Bonn 1981]).
Die Reliefs bieten aber noch immer einige ikonographische Probleme, die Abetel nicht gelöst hat, ja nicht einmal bemerkt zu haben scheint.
In der Rekonstruktionszeichnung des Fragments A5 (S. 16 A5 und S. 69 f. B5) auf Taf. 6 lässt er ein Band diagonal über den nackten Oberkörper des Mannes laufen (1988 Taf. 16 ergänzte er hier den Schaft einer Lanze), ohne darzustellen, was an ihm befestigt gewesen sein könnte : Das Köcherband eines bogenschießenden Apollo, den Abetel in dieser Gestalt erkennen will, kann es nicht sein, weil – wie in der weit besseren Abbildung bei Neukom (2002 Taf. 48) deutlich wird – kein Köcher an ihm hing : Der Reliefgrund ist über der Schulter ohne Bruch erhalten, der Köcher kann also nicht abgebrochen sein; da auch Dübellöcher fehlen, war er auch nicht angestückt. Ein Bogenschütze wird an dem Band auch kaum eine Schwertscheide befestigt haben. Neukom (2002, 78) hat das Fragment überzeugender als Hercules gedeutet : Sie erkannte einen Löwenkopf an dem Gewandrest unter dem Arm, wo Abetel nur „marques d’outil“ sah, die vielleicht ein nicht weiter interpretierbares „motif végétal“ oder möglicherweise sogar ein Adler sein könnten. Ein Adler wäre jedoch nur neben Iuppiter sinnvoll, der aber eindeutig auf dem Fragment A1 (Taf. 1a) erhalten ist.
Problematisch ist auch die Deutung des Fragments A3 (S. 16 A3 u. 66 f. B3 Taf. 4). Abetel gibt in der Rekonstruktionszeichnung auf Taf. 4 nur einen voll gerüsteten Krieger wieder, während er in seinem Aufsatz (Abetel 1988 Taf. 4) auch einen liegenden Gegner zeichnete, auf dessen Beinen der Krieger kniet. Abetel deutet diesen knienden Krieger als Mars. Er bleibt dem Leser aber schuldig, ob einer der siegreichen Götter in der Gigantomachie knien kann, eine Haltung, die eher für im Kampf Verletzte, Unterlegene zu erwarten ist. Er fragt auch nicht, wie das Relief ausgesehen haben kann. Er geht ja – wie auch Neukom (2002, 80) – davon aus, dass sich auf den Reliefplatten jeweils ein Gott und ein Gigant gegenüberstanden. Da das Relief nach seiner Rekonstruktion des ganzen Monuments aber genauso hoch sein musste wie das mit dem stehenden Iuppiter (Neukom 2002, 80 geht von einer Höhe von etwa 43–45 cm aus), war es mit einem knienden Gott und seinem liegenden Gegner sicher nicht zufriedenstellend zu füllen. Der Vorschlag Abetels (S. 78), dass die Figuren auf verschiedenem Niveau angeordnet gewesen sein könnten, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Der kniende Krieger hält seine Waffe etwas schräg nach unten. Sein Gegner, wenn der Krieger Mars ist, kann also nicht sehr viel niedriger angeordnet gewesen sein : Er musste ihn mit seiner Waffe ja treffen können. Andererseits : Wollte man den Krieger zu einem der unterlegenen Giganten machen, wäre zu erklären, warum er keine Schlangenbeine hatte wie mindestens zwei Giganten auf den Fragmenten und auch, warum er als einziger voll gerüstet war.
Große Mühe gibt sich Abetel dabei, die bisherigen Vorschläge zu überprüfen, wie die Reliefs am Tempel oder auf dem Platz vor ihm verwendet gewesen sein können (Kap. V : Restes sculptés et fana, S. 83‑91). Er diskutiert und sammelt Material dafür, ob und wo in und an gallorömischen Umgangstempeln Skulpturen verwendet wurden und ob es Kultbilder im Inneren gegeben hat.
Einen weiteren Abschnitt (S. 94 f.) verwendet Abetel darauf, Tempelgrundrisse zusammenzusuchen, bei denen vor dem Eingang dezentral eine Baustruktur nachzuweisen ist. Er benötigt diese Zusammenstellung, um seinen Vorschlag für die Verwendung der Gigantomachiereliefs an einer kleinen, auf einem Pfeiler stehenden Aedicula wahrscheinlicher zu machen. Vor dem Tempelgrundriss von Vidy gibt es nämlich in kurzer Entfernung, deutlich aus der Mitte nach links versetzt, ein Fundament, auf dem Abetel in seiner Abb. 60 einen Pfeiler (allerdings ohne Basis und Kapitell !) mit einem bekrönenden kleinen Haus mit Walmdach rekonstruiert, auf dessen Außenwänden die Reliefs angebracht gewesen sein sollen. Als Vorbild für dieses Häuschen dient ihm eine Aedicula aus Mainz-Kastel (CSIR Deutschland II,3 S. 76–78 Nr. 93 Taf. 121–124), die sich von seinem rekonstruierten ‚Tempelchen’ vor allem dadurch unterscheidet, dass sie nicht auf einem Pfeiler gestanden haben kann und in ihr wohl eine Götterstatuette aufgestellt war, höchstwahrscheinlich eine des Iuppiter.
Neben Iuppiter, seinem Mars und seinem Apollo erkennt Abetel unter den gegen die Giganten kämpfenden Göttern noch Sol in seinem Wagen, und einen der berittenen Castores (S. 66–73). Es müssen also mindestens sechs Kampfgruppen dargestellt gewesen sein, denn Castor (oder Pollux) kann wohl nicht ohne seinen Bruder gekämpft haben. Wie diese Gruppen sich auf die vier Seiten seines ‚Tempelchens’ verteilt haben könnten, diskutiert Abetel nicht, was bei der Lückenhaftigkeit des Erhaltenen auch verständlich ist. Er müsste sich aber Gedanken gemacht haben, ob auf den Außenwänden der kleinen Aedicula sechs (oder noch mehr?) Kampfgruppen untergebracht werden konnten.
Zur Gesamtkomposition lässt sich etwas mehr aussagen als bei Abetel zu finden ist. Auf dem Fragment A2 (Taf. 2’ und 3), einem Eckfragment, sind auf beiden Seiten, gleichsam Rücken an Rücken, Reste von Giganten erhalten, die in verschiedene Richtungen gekämpft haben dürften. Dass auch Iuppiter (A1 Taf. 1) und Sol (A7 Taf. 7) sich in verschiedene Richtungen bewegen, lässt vermuten, dass die Kampfrichtung auf den einzelnen Seiten gewechselt hat, ein Kompositionsprinzip, das auch am großen Fries des Zeusaltars von Pergamon zu beobachten ist (vgl. z.B. E. Simon, Pergamon und Hesiod. Schr. Ant. Mythologie III [Mainz 1975] Taf. 12 f.; 20 f.).
Um den Komplex Gigantomachiereliefs und Umgangstempel weiter zu unterfüttern, bezieht Abetel drei Fragmente eines weiteren Reliefs (A8 S. 17 f. Taf. 9; B8 S. 74‑76) in seine Arbeit ein. Ihr Fundort ist unbekannt. Abetel erkannte, dass das Kopffragment, der Oberkörper und das dritte Fragment zusammengehören. Er sieht in ihnen einen thronenden Iuppiter und will sie in den Tempel am Forum von Lousonna als Kultbild integrieren. Da auf der rechten Seite des Reliefs Reste eines flatternden Gewandes erhalten sind, müsste Abetel eigentlich Überlegungen anstellen, was dort dargestellt gewesen sein kann, ob etwa auch Rückseite und linke Seite des ursprünglichen Blocks Reliefs trugen und wie das alles zu einem Kultbild passt. Außerdem : Die Rekonstruktion im Museum, die auf Taf. 9 wiedergegeben ist, und die Zeichnung ebenda verwirren dadurch, dass bei ihr der Hals des Gottes und damit auch sein Bart zu lang sind. Brust- und Kopffragment müssen dichter aneinander gesessen haben – was dann allerdings Probleme mit der Position des dritten Fragments mit sich bringt. Warum der linke Arm des Gottes in so ungewöhnlicher Weise vor der Brust liegt, sollte ebenfalls erklärt werden. Es scheint, dass das vor den Fingerspitzen erhaltene Dübelloch für das Anstücken eines Gegenstandes eher ein Attribut in der linken Hand des Gottes halten sollte (so auch Neukom 2002, 80 zu Kat.-Nr. 49a) als das von Abetel ergänzte Zepter in der Rechten, das der Gott, ganz ungewöhnlich für Statuetten des thronenden Iuppiter, schräg vor dem Körper gehalten haben soll.
Das Skulpturenensemble in und bei dem Tempel vervollkommnet schließlich ein Fragment das wahrscheinlich zu einem Altar gehört hat (A9 S. 18 f. Abb. 11; B9 S. 76 f. Abb. 52).
Es irritiert, dass sich viele kleinere Fehler eingeschlichen haben : Die Götter Varneno und Gisacus (beide S. 106) werden mit falschen Namen aufgeführt. In der Rekonstruktion Taf. 5 trägt der erhaltene der beiden Castores einen Vollbart, dafür Apollo auf Taf. 6 eine Kurzhaarfrisur. Iuppiter wird immer wieder als „roi de l’Olympe“ (z.B. S. 63; 75; 87) bezeichnet, was Zeus wohl war, Iuppiter aber nie ! Auf rotfigurigen Vasen wird Zeus auch kaum eine Tunica getragen haben, sondern höchstens einen Chiton (S. 64). Die Bemerkung, dass M. Pfanner (Bemerkungen zur Komposition des Großen Frieses von Pergamon. Arch. Anz. 1979, 46‑57) für die Identifikation des Ares auf dem großen Pergamener Altar keinen Vorschlag gemacht habe (so Abetel S. 51), beruht auf einem groben Missverständnis. Pfanner musste keinen Vorschlag machen, wo der Gott gekämpft haben kann, denn die Namensbeischrift des Ares ist am Ostfries erhalten und Teile seines Kopfes und seines Zweigespanns, die Pfanner sehr wohl erwähnt hat (a.a.O. S. 50 ; die Position des Ares ist eingezeichnet in Abb. 1). Den Gegner der Artemis in diese Diskussion einzuführen, war also überflüssig. Abb. 7 zeigt nicht, wie die Bildlegende behauptet, ein Wolfsloch („trou de louve“), sondern ein einfaches Klammerloch (so richtig Neukom 2002, 76). In solchen und ähnlichen Fällen hätte die Redaktion des Bandes eingreifen müssen, ebenso bei der seltsamen Nummerierung der Tafeln 2’ und 2’’.
Der Versuch E. Abetels, einerseits die Skulpturen von Lousonna zu erklären und ihre Beziehungen zueinander und dem Tempel auf dem Hauptplatz aufzuzeigen, andererseits das Motiv ‚Gigantomachie’ in einen weiten künstlerischen und geistesgeschichtlichen Kontext von der archaischen Kunst Griechenlands bis in das 19. Jahrhundert einzuordnen, war ein sehr ambitioniertes Unterfangen. Leider ist er nicht in allen Teilen gelungen.
Gerhard Bauchhenß