Seit der Antike werden die Werke der Dramatiker in Gesamtausgaben traditionsgemäß in alphabetischer Reihenfolge der Titel angeordnet. Für moderne Auswahleditionen etwa von Aristophanes und den Tragikern hat sich daneben eine chronologische Anordnung eingebürgert, die aufgrund der Quellenlage für Menander nicht in Frage kommt. Die Collection des Universités de France hat demgegenüber einen dritten Weg eingeschlagen. Sie setzte die Komödien des Papyrus Bodmer (Tome I, 1-3) und die des Papyrus Cairensis (Tome II) an den Anfang, weil diese relativ gut bezeugten, am besten erhaltenen Stücke offensichtlich zu einer kanonischen Auswahl aus dem umfangreichen Gesamtwerk zählten. Hierauf folgen nun alle übrigen Stücke, von denen noch Szenenfragmente erhalten sind, und mit ihnen kehrt B(lanchard) zur alphabetischen Ordnung zurück, was allerdings nicht für jeden auf den ersten Blick erkennbar wird, weil die Titel in französischer Übersetzung zitiert werden. Tome III enthält dreizehn Komödien bis einschließlich des Buchstaben P (Perinthia). Die im Alphabet folgenden Sikyonioi (les Sicyoniens) wurden aufgrund ihrer überraschend eigenständigen Überlieferung als Mumienkartonage bereits gesondert ediert (Tome IV). Übrig bleiben nach dem gegenwärtigen Überlieferungsstand noch die Komödien Synaristosai (les Femmes au petit déjeuner), zu deren Rekonstruktion kaum Originaltext, jedoch Mosaikbilder und die freie Bearbeitung durch Plautus erhalten sind, sowie Titthe (la Nourrice) mit Versen, auf deren Erstpublikation wir seit mehr als einem Jahrzehnt warten, und Phasma (l’Apparition); zusammen mit einigen Fabulae Incertae werden sie dereinst wohl die Werkausgabe abschließen (Tome V).
Auch der vorliegende Band enthält mit Georgos (le Laboureur) und Misoumenos (le Haï) Kandidaten einer mutmaßlichen antiken Stückauswahl. Diese zeichnen sich durch eine größere Anzahl sei es direkter, sei es indirekter Bezeugungen aus, und für sie sind darum am ehesten weitere Textfunde zu erwarten. Möglicherweise gehört auch der Kolax (le Flatteur) noch in diese Reihe, denn Strouthias, der Name der Titelfigur, ist bis in byzantinische Zeit bekannt geblieben.[1] Die Popularität des Kolax überrascht insofern, als er zu den von den Römern bearbeiteten (burlesken, eher unmoralischen) Komödien zählt, die in der Regel nicht für den griechischen Schulbetrieb favorisiert wurden. Diese These scheinen Dis Exapaton (la Double tromperie) und Perinthia zu bestätigen, von denen bis heute jeweils nur ein einziges Textzeugnis aufgetaucht ist, und die Zuweisung eines ärmlichen Papyrusfetzens zum Eunouchos bleibt durchaus fraglich. Kassel-Austin ordnen diesen Text den Fragmenta Adespota zu (PCG VIII, fr. 1054), ebenso wie den Papyrus zum Thrasyleon (fr. 1096). Die übrigen Komödien dieses Bandes – es handelt sich bei ihnen durchweg um szenische Bruchstücke, die keine gesicherten Rückschlüsse auf größere Zusammenhänge oder die dramatische Handlung insgesamt gestatten, also um Wartetexte – liegen seit kurzer Zeit in Colin Austins aus dem Nachlass herausgegebener phänomenal knapper und treffender Ausgabe vor[2]. Für die Konstitution des Wortlauts bietet B. gegenüber diesem Vorläufer nicht viel Neues, wohl aber dokumentiert er mit Hilfe konsequent gesetzter eckiger Klammern und unterpunkteter Buchstaben aus Penibelste den aktuellen Stand der Forschung. Dem entspricht es, dass er sich auch aller Ergänzungen enthält, die lediglich einem flüssigeren Text dienen sollen. (In diesem Punkte war Austin weniger zurückhaltend.) Umso mehr erweisen sich seine erklärenden Einführungen (Notice zu den einzelnen Stücken) und die Prosaübersetzungen als willkommene Hilfen für den Leser.
Nur zwei Komödien seien hier herausgegriffen, für die seit Sandbach (OCT 1990) und Arnott (Loeb II, 1996) neue Quellen oder weiterführende Arbeiten vorgelegt wurden: Kolax und Misoumenos. Die erhaltenen Fragmente des Kolax hat M. J. Pernerstorfer ediert,[3] dem B. in vielen Punkten folgt. Leider konnten bisher für die Konstitution des erhaltenen Textes keine konkreten Hinweise aus der lateinischen Bearbeitung des Terenz gewonnen werden, der Menanders Hauptfiguren – den miles gloriosus Bias und dessen Parasiten Strouthias – in seinen Eunuchus übernommen hat. „Le butin est maigre“ (171) konstatiert B. mit vollem Recht bei seinem Versuch, Menanders dramatischen Konflikt zu skizzieren. Schwierigkeiten bereitet seit jeher die Titelfigur, weil im Papyrus zwei verschiedene Namen eines Schmeichlers auftauchen: Strouthias und Gnathon. B. neigt zu der Ansicht, dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelt, die bald unter diesem, bald unter jenem Namen auftritt, ist sich seiner Sache jedoch nicht sicher. So führt er in der Liste der dramatis personae (178) nebeneinander zwei Parasiten an, schränkt dies aber in seiner Übersetzung durch einen fragenden Zusatz wieder ein: „Gnathon – autre nom de Strouthias ?“. Daraus ergeben sich zwei Probleme: 1.) Wie konnte es dem verliebten Pheidias, der in bescheidenen Verhältnissen unter der Aufsicht seines Pädagogen lebt (der Vater ist abwesend auf Handelsreisen), überhaupt gelingen, einen Schmeichler an sich zu ziehen, der gerade erst mit dem zu großem Reichtum gelangten Bias in der Stadt eingetroffen ist, und 2.) warum sollte dieser Schmeichler unter verschiedenen Namen auftreten?[4] Zur Klärung der Vorgeschichte übernimmt B. eine Hypothese Pernerstorfers, die er beiläufig (172 Anm. 5) referiert. Danach sei der Titelheld ein Mensch, der, nachdem er sein väterliches Vermögen verschleudert hatte, sich bei Pheidias als Parasit Gnathon eingeschmeichelt habe und später unter dem Namen Strouthias dem Offizier ins Feld gefolgt sei. Jetzt aber sei er mit diesem zurückgekehrt und als Gnathon seinem ehemaligen Gönner wieder zu Diensten. Schon die erste Hinwendung des Bankrotteurs zu einem unverheirateten im Hause des Vaters wohnenden Jüngling wirkt nicht gerade überzeugend, aber sie muss wohl als zwingende Voraussetzung für die Annahme eines einzigen Schmeichlers angesehen werden, den der Singular des Komödientitels nahelegt. Definitiv ausschließen möchte B. die Möglichkeit zweier unterschiedlicher Schmeichler nicht: eines Schranzen, der dem Mächtigen nach dem Munde redet (Strouthias im Gefolge des eitlen Bias) und eines Parasiten, der an nichts anderes denkt, als sich den Bauch zu füllen (Gnathon bei Pheidias, der sich anschickt, ein gemeinsames Mahl für seine Freunde auszurichten).
Die kümmerlichen Textreste (es handelt sich um aneinandergereihte kurze Exzerpte) laden zu Mutmaßungen ein, die kaum weiterführen. So im Falle einer Rede über den verderblichen Einfluss eines Schmeichlers (190‑199 = 85-94 Sandb.). Die frühen Herausgeber nahmen Daos als Sprecher an, der seinen jungen Herrn Pheidias (τρόφιμε 191) warnt. Das folgende ἑόρακα (193) könnten wir verstehen, wenn wir Daos als älteren Pädagogen betrachten, der als Kriegsgefangener in die Sklaverei geriet und einst den Fall von Städten und den Sturz von Mächtigen erlebt hat. Dem würde auch der pathetische Ton seiner Rhesis entsprechen. Demgegenüber gibt B. diesen Passus mit Vorbehalt dem Strouthias und folgt damit Pernerstorfer (p.100 ff.). Man stutzt spontan, denn es widerspricht herkömmlichen Erwartungen, dass ein Kolax sich rühmt, seinesgleichen zerstöre Städte und bringe Herrscher zu Fall. Will damit der Sprecher seine Fähigkeiten als Intrigant ins rechte Licht setzen? – B.s Preis für diese Interpretation ist die Tilgung von 199 und eine Anmerkung zu 194, wo mit διὰ τοῦτον auf den Urheber allen Umsturzes hingewiesen wird: “Si Daos prononçait cette tirade, il s’agirait sans doute de Strouthias. Si c’est Strouthias, qui la prononce, l’allusion nous échappe.” (p. 183, n.2).
Dass der Misoumenos zu den beliebtesten Komödien Menanders gehörte, steht außer Frage. B. kann sich auf insgesamt 16 Papyrus‑Textzeugen stützen (245-47), das sind so viele wie für kein anderes Stück. Doch bis auf Pap. Oxy 2656 (mehrere Seiten eines Codex in überaus schlechtem Erhaltungszustand mit Resten des 3. und 4. Aktes) handelt es sich durchweg um kurze Fragmente, die nur wenige Verse intakt überliefern. Weil obendrein der Götterprolog verloren ging, verzichtet B. in der Einleitung auf einen Versuch, den szenischen Ablauf der Komödie zu skizzieren. Er hebt stattdessen (L’Action 219-230) die Nähe zur Perikeiromene hervor, verweist auf Parallelen zur Tragödie und gibt zum 5. Akt eine Interpretation des Mosaiks aus Mytilene, das sich auf einen bestimmten Moment der Handlung bezieht, zu dem jedoch der Text fehlt.[5]
Am besten konnte dank der exzellenten Arbeiten von E. Turner[6] die Eingangsszene des Misoumenos rekonstruiert werden. B. bietet nun unter Berücksichtigung aller seit Sandbach und Arnott vorgebrachten Konjekturen einen streckenweise gut verständlichen Text. Die Handlung setzt in tiefer Nacht ein. Der naïve Realismus seiner Szenenbeschreibung: “Die Bühne wird erleuchtet von letzten Blitzen eines abziehenden Gewitters; Donnergrollen und prasselnder Regen” (249) passt eher zu einer Filmkulisse als zu einem antiken Drama, das bekanntlich bei vollem Tageslicht aufgeführt wurde. Menanders Titelheld, der Soldat Thrasonides, setzt in tragischem Tonfall ein, indem er der Nacht sein Liebesleid klagt. In Regen und Kälte läuft er vor seinem Hause hin und her, bleibt immer wieder an der Tür stehen, doch scheut sich einzutreten. Als sein Sklave Getas ihn zurückholen will, ergibt sich aus ihrem Dialog eine Erklärung für sein rätselhaftes Verhalten. Seine Geliebte Krateia, die er einst als Kriegsbeute auf dem Sklavenmarkt gekauft und in die Freiheit entlassen hatte und die er in seinem Hause walten ließ als sei sie seine Ehefrau (37 ff.), meidet ihn plötzlich und verfolgt ihn mit Hass. Er hätte alles Recht, in seinem Hause neben ihr zu ruhen, doch er verbringt die Nacht draußen voll Bitterkeit. Der Grund von Krateias Hass wurde dem Publikum im anschließenden Götterprolog enthüllt; für die handelnden Personen ergab sich die Erkenntnis erst allmählich im Verlauf der Handlung.
Zu strittigen Details dieser Szene sei nur eine Stelle des Eingangs näher erläutert. Getas tritt unbemerkt aus dem Haus (15), um Ausschau nach seinem Herrn zu halten, und spricht dabei zu sich selbst. Thrasonides wird erst auf ihn aufmerksam, als er angesprochen wird (20 f.): “Warum schläfst du nicht – oder schlafwandelst du?” So ist es aus der Situation heraus gut verständlich. B. übernimmt jedoch eine konjekturale Ergänzung von W. Furley (der dem unsicher gelesenen Wort θύραν einen Sinn abzugewinnen sucht)[7] und gibt den Beginn des Verses 20 dem Thrasonides: [τίς νῦν ἀνακρο]ύσει τὴν θύραν;
Damit handelt er sich jedoch sachliche Schwierigkeiten ein. Ἀνακρούειν ‘einen Riegel zurückstoßen’ (um die Tür von innen zu öffnen) ist ein Vorgang, den man auch draußen nicht überhören kann. Thrasonides aber würde auf den Laut erstaunlich spät, nämlich erst nach fünf Versen, reagieren. Vor allem aber würde das Verbum implizieren, dass der Soldat vorher ausgesperrt war. Aber er ist kein exclusus amator. Er hat sich vielmehr freiwillig hinausbegeben (19) und könnte wieder zu ihr gehen, wenn er nur wollte (10). Sprachlich befremdet überdies das Futur des Verbs ἀνακρούσει “qui va sortir maintenant?” – eine freie Übersetzung, die B. mit der Anmerkung versieht: “Passage très mutilé, de lecture et de sens très controversés” (251, n.3). Dass in diesem Zusammenhang noch δρύινος falsch akzentuiert ist und die Übersetzung von ὔπνον λαβεῖν (18 f.) unklar (somme statt sommeil?) sei nur am Rande vermerkt.
Horst-Dieter Blume, Institut für Klassische Philologie, University of Münster
[1]. In der Suda-Enzyklopädie wird er dreimal zusammen mit anderen notorischen Parasiten erwähnt, vgl. A. Blanchard, Ménandre, Tome IV, Les Sicyoniens, Paris 2009, p. XVII, n. 4.
[2]. Menander. Eleven Plays, Cambridge 2013.
[3]. M. J. Pernerstorfer, Menanders Kolax. Ein Beitrag zu Rekonstruktion und Interpretation der Komödie, Berlin-New York 2009.
[4]. Zur Problematik zweier Namen für ein und dieselbe Person vgl. H.-D. Blume, « Wiederlesen macht Freude. Bemerkungen zum Kolax des Menander » in A. Kolde, A. Lukinovich, A.-L. Rey éds., Kορυφαίῳ ἀνδρί. Mélanges offerts à André Hurst, Genève 2005, p. 34.
[5]. Vgl. hierzu noch D. Stefanou, Darstellungen aus dem Epos und Drama auf kaiserzeitlichen und spätantiken Bodenmosaiken, Münster 2006, p. 320‑326.
[6]. E. G. Turner, The Lost Beginning of Menander Misoumenos, Proceedings of the British Academy 63, London 1977, p. 315-331; ders., The Oxyrhynchus Papyri, vol. 48, London 1981, 1-21; vgl. ders., The Papyrologist at Work, Greek, Durham (NC) 1973, p. 15-21, 48-50.
[7]. W. Furley, « Textual notes on Menander’s Misoumenos », ZPE 196, 2015, p. 45.